Interview mit den Bundestagsabgeordneten zur Amprion-Stromtrasse

Coße: „Finger von der Freileitung lassen“
Tecklenburger Land.

Es gibt derzeit kaum ein Thema, das die Gemüter der Menschen im Tecklenburger Land so sehr bewegt wie die geplante Stromtrasse von Amprion. Ob in Tecklenburg oder Lengerich, Lienen oder Ladbergen: Überall regt sich Widerstand gegen eine Freileitung. Wie bewerten die Bundestagsabgeordneten die Situation? WN-Redakteurin Ruth Jacobus hat dazu Anja Karliczek (CDU), Jürgen Coße (SPD) und Jan-Niklas Gesenhues (Grüne) befragt.

Freitag, 12.07.2024, 19:35 Uhr
Durchzieht in absehbarer Zukunft eine Freitrasse das Tecklenburger Land? Oder gibt es doch noch Chancen, dass Erdkabel verlegt werden?
Seit wann ist Ihnen das Vorhaben bekannt, dass eine Stromtrasse in diesem Ausmaß durch das Tecklenburger Land führen soll?

Coße: Mir ist auch erst bekannt, dass eine Stromtrasse in diesem Ausmaß durch das Tecklenburger Land führen soll, seitdem Amprion vor einigen Wochen in den Ausschüssen vor Ort die Pläne veröffentlicht hat. Faktisch hat folgende Bekanntmachung stattgefunden: Amprion hat im November 2022 erste Bürgerinfomärkte zu dem Leitungsbauvorhaben in der Region entlang des Korridornetzes angeboten. Vorab wurden Anzeigen in den lokalen Zeitungen geschaltet sowie die Termine auf unserer Internetseite veröffentlicht. Vor den Veranstaltungen wurden die politischen Vertreter auf kommunaler, Landes- und Bundesebene informiert. Im April 2024 fanden ebenfalls Informationsveranstaltungen statt: Es gab einen digitalen Informationstermin für Vertreter der Bundes- und Landespolitik sowie zwei Veranstaltungen vor Ort mit Vertretern der Kommunalpolitik sowie sechs Infomobil-Stopps für die Bürger vor Ort. Amprion hat zudem als Gast bei Ausschusssitzungen auf kommunaler Ebene das Projekt vorgestellt. Der bei diesen Veranstaltungen gezeigte Foliensatz ist auf der Website des Unternehmens öffentlich zugänglich.

Gesenhues: Der Bundestag hat im Sommer 2022 beschlossen, weitere Vorhaben in das Bundesbedarfsplangesetz aufzunehmen, zu denen auch die Leitung von Westerkappeln nach Gersteinwerk zählt. Die Bezirksregierung Münster und Amprion sind jetzt dafür verantwortlich, den Verlauf der Strecke zu planen und festzulegen. Durch deren Veröffentlichung sind mir die bisherigen Planungen bekannt.

Warum wird die Leitung nicht unterirdisch, sondern über bis zu 70 Meter hohe Masten durch das Tecklenburger Land und über den Teuto geführt? 2016 hatte sich die damalige Bundesregierung grundsätzlich dafür ausgesprochen, Erdkabel zu bevorzugen. Welche Position vertritt Ihre Partei aktuell? Und welche Position vertreten Sie persönlich?

Anja Karliczek (CDU) Foto: Büro Karliczek
Karliczek: Die Stromtrassen müssen gebaut werden. Das ist schon klar, seitdem die Energiewende beschlossen wurde. Wir werden auch für die Digitalisierung unseres Landes wesentlich mehr Energie benötigen als in der Vergangenheit. Deshalb ist es wichtig, ein leistungsfähiges und skalierbares Stromnetz überall im Land zu haben. Davon profitieren alle, auch die Menschen und die Wirtschaft bei uns im Münsterland.

Coße: Bei der Leitung zwischen Westerkappeln und Gersteinwerk handelt es sich um eine Wechselstromleitung. Hier gibt es bisher nur Pilotstrecken wie bei Raesfeld. Zudem erfordern Erdkabelprojekte umfassende Umwelt- und Standortverträglichkeitsprüfungen, was den Planungs- und Genehmigungsprozess verlangsamt.

Die rechtliche Situation sieht so aus, dass Erdkabel derzeit bei Wechselstrom die Ausnahme darstellen, da die rechtlichen Voraussetzungen und die Plan- und Genehmigungsverfahren komplexer sind und länger dauern. Die hohen Kosten und der höhere technische Aufwand machen Erdkabel in vielen Fällen weniger attraktiv als Freileitungen. Zudem gibt es bisher wenig Langzeiterfahrungen mit Höchstspannungs-Erdkabeln, was die Planungssicherheit weiter reduziert.

Die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2015 ermöglichte zwar eine verstärkte Nutzung von Erdkabeln bei Gleichstrom. Trassen und ihre Ausbauform sind über den Netzentwicklungsplan 2024 im Energieleitungsausbaugesetz und im Bundesbedarfsplangesetz für 11 Pilotregionen gesetzlich festgeschrieben. Eine Erdverkabelung wäre somit nur aufgrund einer Änderung eines Bundesgesetzes möglich. Das ist aktuell und insbesondere mit kurzfristigen Auswirkungen auf die aktuelle Planung nicht in Sicht.

Die gesetzliche Grundlage für die Errichtung der Höchstspannungsleitung zwischen Westerkappeln und Gersteinwerk ist das Bundesbedarfsplangesetz (BPlanG). Aus Nr. 89 der Anlage zum BPlanG ergibt sich die Trasse zwischen Westerkappeln und Gersteinwerk. Eine Erdverkabelung setzt voraus, dass diese Trasse im Bemerkungsfeld der Anlage mit „F“ gekennzeichnet wird, was nicht der Fall ist (vgl. § 4 Abs. 1 BPlanG „Um den Einsatz von Erdkabeln im Drehstrom-Übertragungsnetz als Pilotprojekte zu testen, können die im Bundesbedarfsplan mit „F“ gekennzeichneten Vorhaben zur Höchstspannungs-Drehstrom-Übertragung nach Maßgabe dieser Vorschrift als Erdkabel errichtet und betrieben oder geändert werden.). Die Trassen, bei denen ein Erdkabel pilotiert werden kann, ergeben sich auch aus § 2 des Gesetzes zum Ausbau von Energieleitungen (Energieleitungsausbaugesetz – EnLAG). Die Trasse zwischen Westerkappeln und Gersteinwerk ist dort nicht aufgeführt. Diese beiden Vorschriften müssten geändert werden, damit eine Erdverkabelung möglich wird. „Der Gesetzgeber bewertet die Erdkabeltechnologie für Höchstspannungsleitungen im Drehstrombereich nicht als dem Stand der Technik entsprechend, erachtet sie nicht als gleichberechtigte Alternative zu Freileitungen und hat ihren Einsatz auf Pilotvorhaben beschränkt (BT-Drs. 18/4655 S. 1 f.).“

Jürgen Coße (SPD) Foto: photothek.net
Die technische Situation: Die Trasse Westerkappeln – Gersteinwerk ist keine reine „Durchleitung“. Sie hat viele Verzweigungen und ist somit auch Versorgungs- bzw. Verteilnetz für die Region selbst, im Gegensatz zu den Hausanschlüssen im Hochspannungsbereich. Denn: Je länger ein Wechselstrom-Erdkabel ist, desto größer ist der Anteil der nicht nutzbaren Blindleistung. Ab einer gewissen Länge sind etwa alle 15 Kilometer zusätzliche Kompensationsmaßnahmen notwendig. Sonst wäre das Kabel gewissermaßen mit Blindleistung verstopft. Das Leitungsbauprojekt Westerkappeln – Gersteinwerk ist gesetzlich als Vorhaben 89 im Bundesbedarfsplangesetz verankert. Das Bundesbedarfsplangesetz weist, genauso wie das Energieleitungsausbaugesetz EnLAG, Pilotprojekte Teilerdverkabelung aus. Dadurch können Übertragungsnetzbetreiber prüfen, ob bei dem Vorliegen bestimmter Auslösekriterien eine Teilerdverkabelung auf technisch-wirtschaftlichen Abschnitten zielführen ist. Das Leitungsbauvorhaben Westerkappeln – Gersteinwerk hat keine Kennzeichnung als Pilotprojekt Teilerdverkabelung. Von daher plant Amprion eine Freileitung.

Und wie ist die Position Ihrer Partei beziehungsweise Ihre persönliche?

Coße: Die SPD sieht die Dringlichkeit für den Ausbau des Stromnetzes, um die Nutzung erneuerbarer Energien weiter voranzutreiben. Wenngleich Erdverkabelung mit höheren Kosten verbunden ist, steht die SPD-Fraktion zu dem gesetzlich festgelegten Vorrang für Erdverkabelung bei Gleichstrom-Übertragungsnetzen. Die höheren Kosten müssen einer höheren Akzeptanz gegenübergestellt werden. Akzeptanz hat für uns einen hohen Stellenwert, bei der Umsetzung des Transformationsprozesses. Die Errichtungskosten von Erdkabeln sind allerdings wesentlich höher als die von Freileitungen. Im Vergleich zu Hoch- und Höchstspannungsbereich können die Kosten um das Achtfache höher sein. Auch der Transport- und Bauaufwand ist höher. Erdkabel benötigen beim Bau viel Platz und spezielle Maßnahmen für den Transport der schweren und großen Kabeltrommeln. Die technischen Herausforderungen bestehen außerdem darin, dass die Verbindungen (Muffen) zwischen den Kabelabschnitten anfälliger für Fehler sind und eine Schwachstelle darstellen. Auch die Wärmeabstrahlung kann problematisch sein, da die umgebende Erde die Wärme schlechter ableitet. Auch sind Umweltaspekte mit zu berücksichtigen, die den Boden beeinflussen. Der Bau von Erdkabeln führt zu erheblichen Eingriffen in den Boden, was zu Bodenverdichtungen und möglichen Schäden an der Bodenfauna führt. Außerdem ist der nach Einbau der Erdkabel nur eingeschränkt nutzbar. Landwirte können den Boden über den Kabeln zwar normal nutzen, aber keine tiefwurzelnden Pflanzen oder Bäume anbauen. Auch Bauten auf dem Schutzstreifen sind nicht erlaubt. Als letzter Aspekt sind die Lebensdauer und Reparatur zu nennen. Die Lebensdauer von Erdkabeln ist mit 40 Jahren deutlich kürzer als die von Freileitungen (ca. 80 Jahre) und die Reparatur eines Erdkabels dauert deutlich länger.

Ich rate Amprion dazu, die Finger von der Freileitung zu lassen. Nach meiner Auffassung gehören die Leitungen unter die Erde. Meiner Meinung nach will Amprion hier die billigste Variante nehmen. Das Unternehmen macht sich einen schlanken Fuß. Von daher appelliere ich an die Vernunft von Amprion, hier statt der Freileitung eine Erdverkabelung umzusetzen. Deutschland muss sein Stromnetz weiter ausbauen, damit die Stromversorgung angesichts immer mehr erneuerbarer Energien auch in Zukunft sicher ist. 5.800 Kilometer neue Leitungen sind dafür bis zum Jahr 2024 notwendig. Aber warum Amprion dann mit der Freileitung eine Variante wählt, die in der Bevölkerung verständlicherweise auf den größten Widerstand stößt und damit in der Umsetzung am längsten dauert, ist mir ein Rätsel. Ich werde alles versuchen, um in Berlin eine Gesetzesänderung zu erwirken, die den Bau eines Erdkabels ermöglicht.

Jan-Niklas Gesenhues Foto: prf
Gesenhues: Im Bundesbedarfsplangesetz ist rechtlich vorgegeben, welche Art von Leitung verlegt wird. Derzeit werden Wechselstromleitungen aus physikalischen Gründen vor allem als Freileitungen umgesetzt, die Erdverkabelung für diese Art von Strom ist bisher nur als Pilotprojekt vorgesehen. Als Abgeordneter aus der Region liegt mir das Thema natürlich sehr am Herzen und ich habe bei Amprion und in der Bundesregierung nachgefragt, ob es Alternativen gibt, insbesondere ob man die Leitungen mit schon vorhandener Infrastruktur zusammenlegen kann. Wir diskutieren viel darüber, ob man Freilandleitungen oder Erdkabel bauen soll, besonders in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen. Der Ausbau des Netzes greift stark in unsere Natur ein. Freileitungen sind vor Ort sehr unbeliebt und zerschneiden die Landschaft. Erdkabel können in manchen Fällen weniger Schaden an der Landschaft anrichten. Trotzdem müssen für den Bau viele Schichten Boden abgetragen, Bäume gefällt und ein breiter Graben ausgehoben werden.

Der Tecklenburger Stadtrat hat sich unter anderem einstimmig dafür ausgesprochen, dass die heimischen Bundestagsabgeordneten um Unterstützung gebeten werden bei dem Widerstand gegen Freileitungen in dieser Dimension und beim Umschwenken auf Erdkabel. Welchen Einfluss können beziehungsweise wollen Sie nehmen?

Karliczek: Es geht aktuell um eine Wechselstromtrasse, die schon aus technischen Gründen nicht vollständig unterirdisch gebaut werden kann. Die Gleichstromtrasse, die weiter westlich gebaut wird, soll unterirdisch gebaut werden. Für mich ist wichtig, noch einmal genau zu schauen und zu prüfen, auf welchem Weg die geringste Belastung für Mensch und Umwelt erreicht werden kann und ob wirklich alle Alternativen geprüft und ausgelotet worden sind. Das ist sehr wichtig, um die Akzeptanz bei uns zu erreichen und im Prozess aufrechtzuerhalten.

Coße: Um eine Erdverkabelung zu erreichen, müsste eine Änderung der Bundesgesetze erreicht werden, dass einerseits die Nr. 89 der Anlage zum BPlanG um das Merkmal „F“ ergänzt wird und die Trasse Westerkappeln – Gersteinwerk in die Erdkabel-Pilotvorhaben des § 2 Abs. 2 des EnLAG aufgenommen wird. Die Chancen auf Erfolg sind ehrlich gesagt sehr gering. Dennoch werde ich alle meine Möglichkeiten einsetzen und mich in Berlin dafür stark machen, dass diese Stromtrasse nicht als Freileitung durch das Tecklenburger Land gelegt wird. Ich werde unter anderem an das Bundeskanzleramt schreiben. Und ich bin offen für Gespräche und den Informationsaustausch mit den Bürgerinnen und Bürgern in Tecklenburg, Lienen, Ladbergen und Lengerich und bin auch bereits vor Ort mit den Menschen im Gespräch. In Kürze werde ich mich mit den Bürgerinitiativen und den Menschen aus allen betroffenen Orten treffen, da sind wir gerade in der Terminfindung. Ich stehe auch im Austausch mit den zuständigen Expertinnen und Experten unserer Fraktion, um die Fragen, die in Bezug auf die Freileitung aufkommen, möglichst schnell beantworten zu können.

Gesenhues: Als Abgeordneter unterstütze ich die Initiativen aus der Region bereits mit Informationen sowie durch Vortragen ihrer Anliegen und Fragen bei den Behörden. Ich habe mich schon mehrfach mit Fragen zum Leitungsbau an das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gewandt, um herauszufinden, wie wir den nötigen Netzausbau umsetzen und gleichzeitig die Belange der Menschen vor Ort zu berücksichtigen können.

Die Kommunen wollen alle an einem Strang ziehen. Die große Initiative „Lebensraum Teuto“ arbeitet bereits interkommunal. Der Widerstand formiert sich ungewohnt deutlich. Wie bewerten Sie diese Gegenwehr und die Chance auf Erfolg?

Karliczek: Ich unterstütze nach Kräften die Bemühungen, die beste und verträglichste Lösung für die Region zu finden. Ich bin mit den Initiatoren in Tecklenburg und öffentlichen Partnern schon im Gespräch und finde es hervorragend, dass sich alle Beteiligten gemeinsam bemühen und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Nach meinen Beobachtungen sind sich alle darüber im Klaren, dass es nicht mehr um die Frage geht, „ob“ gebaut wird. Sondern es geht um die Frage, „wie“ gebaut wird und wie wir auf der einen Seite den gewünschten und notwendigen Erfolg – nämlich eine sichere Stromversorgung für alle Menschen in Deutschland – erreichen. Und auf der anderen Seite die Belastungen für die Regionen, durch die diese Trassen führen, so klein wie möglich zu halten. Da das Beteiligungsverfahren noch aussteht, sind die Chancen gut, die wirklich beste Trasse zu finden. Denn die Menschen und die lokalen Behörden kennen die Verhältnisse und Umstände am besten.

Coße: Ich kann die Gegenwehr natürlich sehr gut verstehen und ich nehme die Bedenken der Anwohnerinnen und Anwohner sehr ernst. Die Erdverkabelung von Höchstspannung-Wechselstromleitungen birgt jedoch eine Reihe von technischen Risiken, die noch nicht nachhaltig gelöst werden konnten. Daher gibt es „nur“ elf Pilotprojekte. Die Zahl war ursprünglich geringer, wurde aber aufgrund politischer Einflussnahme erhöht. Ein Begehren auf Erdverkabelung im Wechselstrombereich bei Übertragungsnetzen hat meines Erachtens nicht nur aus den erwähnten technischen Gründen wenig Aussicht auf Erfolg, sondern auch aufgrund sehr hoher Kosten, die damit verbunden sind. Die Rahmenbedingungen des Bundeshaushaltes (Schuldengrenze, weniger Finanzmittel) sprechen dagegen. Daher sollte den Bürgern vor Ort keine große Hoffnung gemacht werden.

Gesenhues: Ich kann die Bedenken der Menschen in der Region gut verstehen. Es ist ein großer Eingriff in Natur und Landschaft, natürlich gibt es da Widerstand. Als Umweltschützer freut es mich auch, dass sich viele Leute für den Schutz unserer Natur interessieren. Leider hat die Vorgängerregierung beim Ausbau der Erneuerbaren Energien und beim Netzausbau total versagt. Jetzt muss unter Hochdruck nachgesteuert werden. Dabei gibt es manchmal auch Zielkonflikte zwischen Energiewende und Naturschutz. Aber wenn wir unsere Natur retten wollen, brauchen wir beides – Umwelt- und Klimaschutz.

Quelle: WN